Die Kunst des Zuhörens wurde vergessen

    KOLUMNE:


    Jugend von heute

    Jede Minute werden auf den sozialen Medien mehrere tausend Videos und Fotos gepostet. Es wird geredet, es wird diskutiert – eine Flut des nie endenden Echos. In dieser Stimmenanarchie geht der Sinn für das Ziel verloren. Aus einem anfänglichen Diskurs der Menschheit wird ein Monolog der einzelnen Individuen.

    Durch das vermehrte Aufkommen von sozialen Medien wurden unsere Wertvorstellungen und die eigenen Prioritäten stark verändert. Die Darstellung einer makellosen und perfekten Welt beeinflusst das Handeln der Menschen und erhöht die eigenen Erwartungen ins Unerreichbare. Immer mehr lebt man für die Selbstdarstellung auf den sozialen Medien. Man möchte, dass das eigene Leben auf einzelnen Momentaufnahmen perfekt erscheint, perfekter als die Summe seiner einzelnen Momente im realen Leben. Jeder möchte grossartig wirken, jeder möchte sich von seiner besten Seite zeigen. Man konzentriert sich durch die sozialen Medien immer weniger auf seine Mitmenschen. Man verliert sich in der eigenen Darstellung, in seinem eigenen Monolog und hört immer weniger zu. Je öfter man redet, desto mehr gewöhnt man sich an seine eigene Stimme und desto mehr hört man sich selber reden – Das Zuhören ist kein Raum der Menschlichkeit mehr, sondern ist eine Mauer der Selbstdarstellung geworden.

    Der Aufbau und die Struktur der sozialen Medien verstärken den Verlust des Zuhörens. Wenn einem ein Video nicht passt, wird zack weitergescrollt und das nächste Video angeklickt. Man hört Menschen nicht mehr bis zum Ende zu, sondern schaltet ab, sobald man nicht mehr zuhören möchte. Wenn jemand im Video zu langsam redet, haben wir die Funktion, durch die Redewiedergabe das Sprechtempo des Redners / der Rednerin schneller zu stellen. Wenn uns das Gespräch langweilt, fangen wir an, im Internet zu surfen und hören nur noch mit einem Ohr zu. Nicht mehr der Akteur bestimmt das Gespräch, sondern wir als Statisten an der Nebenlinie bestimmen die Bedingungen des Gesprächs – aus Statisten werden Akteure. Wir sind nicht mehr auf den Austausch angewiesen, sondern wir bestimmen, ob, wann und wie wir uns austauschen, und genau so funktioniert das Zuhören eben nicht. So funktioniert keine Gesellschaft. Zuhören ist kein «vielleicht», sondern ein Muss, eine Pflicht. Nur wenn man selbst stumm zuhört, kann man auch gehört werden.

    Zuhören ist ein aktiver Vorgang, während dem man seine Aufmerksamkeit dem Redner / der Rednerin zuwendet. Zuhören ist keine Entspannung und kein meditativer Findungsprozess, welchem man nur so lange folgt, bis man selber etwas sagen möchte. Zuhören benötigt Geduld. Zuhören ist ein Dialog und besteht aus jemandem, der redet, und einem Gegenüber, der nonverbal zuhört. Zuhören ist kein Zeitvertreib, sondern das aktive Auseinandersetzen mit seiner Umwelt und somit essenzielles Fundament für spätere Gespräche und Interaktionen. Nur mit diesem Fundament ist es möglich, Probleme zu lösen, und zwar zusammen.

    Die sozialen Medien vermitteln den Eindruck, dass, um grossartig und erfolgreich zu werden, das eigene Talent und Potenzial am wichtigsten ist. Man muss alles selber bewältigen können. Selbstdarstellung führt zum gewünschten Ziel. Doch selten vereint eine Person alle Fähigkeiten. Wie ein bekanntes Sprichwort besagt: «Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen.» Ein Meister seiner Aufgaben wird man nur durch ständiges Lernen und Zuhören. Durch das Zuhören anderer Menschen und das Lernen von anderen Menschen. Wenn wir alle ein wenig besser zuhören würden, könnten vielleicht manche Fehler direkt vermieden werden. Wenn wir alle ein wenig besser zuhören würden, könnten manche Missverständnisse behoben werden. Wenn wir alle ein wenig besser und länger zuhören würden, wer weiss, vielleicht würden wir alle manchmal ein wenig schlauere Sätze sagen.

    Herzlichst
    Lilly Rüdel

    Vorheriger ArtikelMittendrin statt nur dabei – Der Coaching-Mentoring-Event 2024
    Nächster ArtikelEinblick in das amerikanische Leben