Mit spitzer Feder …
Die Neidkultur wird in der Schweiz leider immer ausgeprägter – dies meine Beobachtungen in den letzten Jahren: Es gibt viele Gründe, auf andere neidisch zu sein, auch wenn dieses Gefühl schmerzlich und peinlich zugleich ist: Der unangenehme Blick auf die materiellen, beruflichen oder persönlichen Erfolge anderer, die man selbst nicht geschafft hat, und die sich wie ein Urteil über die eigenen Fähigkeiten anfühlen. Unser Land gilt als sogenannter «Tresor» mitten in Europa. Die Schweiz gibt der Welt viel – ideell, materiell und humanitär. Wir bieten insbesondere dreierlei; wir bieten Freiheit, Fortschritt und gute Dienste. Der Sonderfall Schweiz färbt auch auf das Ausland ab. Denn er sorgt für Wettbewerb. Nicht erstaunlich, wird die Schweiz für ihren eigenen Weg kritisiert. Denn unsere Freiheit provoziert alle, die ihr Staatswesen weniger freiheitlich ausgestalten. Kurz und gut: Wir hier in der Schweiz sind privilegiert und das ruft Neider auf den Plan.
Im Vergleich zu anderen Ländern leben wir hier in einem demokratischen Rechtsstaat – frei und wohl behütet – im Überfluss. Wohlstand und Privilegien sind für die meistens von uns selbstverständlich. Und dieser Status soll möglichst so bleiben oder noch gesteigert werden. Zurückbuchstabieren und den Gürtel enger schnallen, scheint in unserer Leistungsgesellschaft ein Ding der Unmöglichkeit zu sein. Dies nährt allerdings Neid und Missgunst. Dass Neid gesellschaftliche Relevanzen hat, sind sich allerdings die wenigsten bewusst. Denn Neid ist nicht nur trostlos, sondern auch mächtig. An Neid zerbrechen Familien, Neid stürzt Regierungen, Neid schafft Revolutionen. Neid kann Ungerechtigkeit aufzeigen. Neid befeuert Religion und Politik, schafft Fortschritt und behindert ihn.
Neid ist aber nicht nur unangenehm, sondern hat auch eine Katalysatorfunktion. Worauf ich neidisch bin, verrät viel über meine Sehnsüchte. Oft steckt hinter neidischer Frustration etwas ganz anderes: Erschöpfung, Überarbeitung, Unzufriedenheit, Selbstmitleid, Minderwertigkeit, etc. Die konkreten Erfolge anderer Menschen sind – bei Licht betrachtet – oft gar nicht das, was wir ihnen neiden. Neid konzentriert sich meist auf einen einzelnen Aspekt eines anderen Lebens, die anderen Aspekte sind uns jedoch vielfach verborgen. Vielleicht hat jemand grosse berufliche Erfolge, bezahlt sie aber mit einem privaten oder gesundheitlichen Preis, der einem selbst viel zu hoch wäre.
Doch sobald man Neid zugibt, disqualifiziert man sich automatisch. Neid ist immer noch ein Tabu. Eine Gesellschaft, die Neid offen zugibt, wäre eine sehr ehrliche und verzeihende. Es gibt wohl nichts Menschlicheres, als sich selbst ungenügend zu finden, mit anderen zu vergleichen und die Ungerechtigkeit des Lebens zu erkennen. Wer Neid eingesteht, macht auch seinem Gegenüber ein Kompliment. Und führt sich selbst nicht in Versuchung, sich zu verstellen oder Anerkennung zu heucheln. Neid ist ein Schmerz, aber wenn man ihn sich eingesteht, schwindet er schon ein wenig. Schwäche zugeben ist Stärke, weiss ja jeder Hobbypsychologe. Neid kann auf diese Weise viele gute Effekte haben: Man erkennt dadurch, welche Bedürfnisse tatsächlich bisher unerfüllt geblieben oder zu kurz gekommen sind.
Neid ermöglicht neue Perspektiven und Blickwinkeln: Sich auf sich selbst zu konzentrieren, etwas zu schaffen, das besser zu einem selbst passt. Denn Neid stammt von «Nid», und das bedeutet Anstrengung und Wetteifer. Dankbarkeit und Demut nehmen übrigens jeglichen Neidgefühlen den Wind aus den Segeln. Ich halte es jedenfalls so: Ich bin zufrieden mit dem, was ich habe – ganz nach dem Motto «weniger ist mehr». Ich freue mich über den Erfolg der Mitmenschen – diese Freude kommt immer wieder auf mich selbst zurück. Ich habe daher keinen Grund neidisch zu sein.
Herzlichst,
Ihre Corinne Remund
Verlagsredaktorin